Einige Hinweise zur neutestamentlichen Kanonfrage

Die heilige Schrift des alten und neuen Testamentes ist die Basis der christlichen Kirche. Damit ist die Frage, welche Schriften heilige Schriften sind und zum Kanon dazugehören von elementarer Bedeutung. Der Entscheidungsprozeß über die Schriften des neutestamentlichen Kanons zog sich bis zum Ende des vierten Jahrhunderts hin. Allerdings scheint der größte Teil des Neuen Testaments schon vom Ende des ersten Jahrhunderts an fest zum christlichen Gottesdienst und Leben dazugehört zu haben. 

I. Theodor Zahns Grundriß der Geschichte des neutestamentlichen Kanons

II. Der Kanon Muratori

III. Origines

IV. Eusebius

V. Der heutige neutestamentlichen Kanon und der ungefähre Anteil der einzelnen Bücher daran

VI. Literatur



I. Theodor Zahns Grundriß der Geschichte des neutestamentlichen Kanons1


§1 Hauptbegriffe (S. 1-14)

Kanon (Rohr "Kane"; Hebr.: qaneassyr.-babyl. kanu). Vom Rohr  "Kane" kam es zu der Bedeutung von “Richtscheit, Lineal” für Kanon (S.2). Das Wort Kanon wird dann auch im Sinne von “Liste, Verzeichnis, Tabelle” benutzt (S.6). Der regelmäßige Gebrauch von Kanon in bezug auf die Bibel ist ab Mitte des 4. Jahrhunderts nachweisbar (S.7) nach Zahn im Sinne von “Liste” (Katalogos, S.9). Bei den Lateinern wird dann die Bibel selbst Kanon “canon” im Sinne der ursprünglichen Bedeutung = regula (maßgebende Autorität) genannt. Die Formulierung (palaia und kaine) diatheke (altes, neues “Testament”, alter, neuer “Bund”) beinhaltete die Vorstellung einer abgeschlossenen Sammlung von Offenbarungsurkunden. Irenäus redet noch nicht in bezug auf die Bibel von diatheke, aber schon bei Clemens von Alexandrien2, Tertullian (testamentum) und Origines findet sich dieser Gebrauch. Die Zugehörigkeit zur Sammlung wurde mit dem griechischen Wort “endiathekos” ausgedrückt. Vgl. 2. Kor. 3,14. Voraussetzung für die Zugehörigkeit zur Sammlung der Offenbarungsurkunden war der kirchliche, genauer der gottesdienstliche Gebrauch: “Die regelmäßige gottesdienstliche Lesung ... war das wesentliche Merkmal der als heilige Schriften zu betrachtenden Bücher.” (S.12) Vgl. hierzu auch den ursprünglichen Gebrauch des Wortes apokryph”: ausgeschlossen von der gottesdienstlichen Lesung ohne abschätziges Urteil. Drei Ergänzungen sind hierbei notwendig: 1. Die zugelassenen Bücher waren nicht in der ganzen Christenheit dieselben. 2. Das Urteil schwankte bis in spätere Zeiten (bzw. zeitweilig) in verschiedenen Provinzialkirchen betreffs mehr als einer Schrift. 3. Ermangelte der Begriff der regelmäßigen gottesdienstlichen Lesung selbst der völligen Bestimmtheit. Trotz dieser drei Ergänzungen kann man grundsätzlich von einer Identität des Kreises der kanonischen und des Kreises der gottesdienstlichen Lesebücher sprechen.

§2 Das NT um 170-220 (S. 14-27)

Zusammenfassung S. 26-27: Zum unveräußerlichen Bestand gehörten die vier Evangelien, 13 Briefe des Paulus, die Apostelgeschichte, die Offenbarung, der 1 Petrusbrief, der 1. Johannesbrief (dem aber regelmäßig auch 2. und 3. Johannes angehängt waren), wahrscheinliche auch Judas und der Hirte des Hermas (außer in der Zeit von 200-210). Dagegen gab es Verschiedenheiten und Schwankungen in bezug auf Hbr, Jak, 2 Petr, Apokalypse des Petrus, Apostellehre, Barnabasbrief, 1. und 2. Clemensbrief, Akten des Paulus und den Hirten des Hermas. Die Polemik, wie sie geäußert wird gegen Marcion, die Gnostiker und Aloger setzt voraus, daß diese Sammlung nicht erst in der Auseinandersetzung entstanden ist, sondern Ergebnis einer weiter zurückliegenden Entwicklung war.

§3 Das NT um 140-170 (S. 27-35):

1. Marcions Bibel (S.28-29) 2. Die Bibel bei den Valentinianern (S.30-32). 3. Die Schriften der Apostel bei Justinus Martyr. Dieser kannte nach Zahn, wie man das aus den in seinen Schriften benutzten Büchern schließen kann: Die vier Evangelien, die Apokalypse, Röm, 1 Kor, Gal, Eph, (Philipper?), Kol, 2. Thes, (Tit., 1 Tim?), Hbr. 1 Petr, (Jak?), Apostelgeschichte und die “Lehre der 12 Apostel” u.a.

§4 Älteste Spuren und Entstehung von Sammlungen apostolischer Schriften (S. 35-41)

Viele Fragen werden “für immer ohne sichere Antwort bleiben. Aber als sicher darf gelten, daß um die Jahre 80-110 sowohl das >vierfaltige< Evangelium als das Corpus der 13 Briefe des Paulus entstanden und in den gottesdienstlchen Gebrauch der heidenchristlichen Gemeinden auf der ganzen Linie von Antiochien bis Rom eingeführt woerden sind, und daß diese beiden Sammlungen, welche den Grundstock des NT’s bilden, von Anfang an im gottesdienstlichen Gebrauch und in der Vorstellung der Gemeinden von einem bald weiteren, bald engeren Kreis christlicher Schriften umgeben waren, welche in ähnlichem Maße, wie jene zwei Sammlungen, geeignet schienen, als gottesdienstliche Lesebücher der Erbauung und Belehrung der Gemeinden zu dienen.” (S.41)

§5 Origines und seine Schule (S. 41-44):

Eine wesentliche Änderung hat das NT durch Origines und überhaupt im Verlauf des 3. Jahrhunderts nicht erfahren. Das Neue, was Origines brachte, war die umfassende Vergleichung des überlieferten Besitztstandes der verschiedenen Kirchen” (S.41).

Homologumena sind allgemein als heilige Schriften anerkannte Bücher.

Antilegomena (später gebräuchlich) sind in einem Teil der Gemeinden nicht als heilige Schriften anerkannte Bücher)

Homologumena des Neuen Testamentes nach Origines: 

die vier Evangelien, dreizehn Briefe des Paulus, 1 Petr, 1 Joh, Apg, Offb (die Apokalypse ist für Origines der Abschluß des NT’s; tom. 10,15 in Matth.).

Antilegomena nach Origines:

1. Hbr. (Origines selbst hält ihn für kanonisch und paulinisch; Paulus hätte die Ausarbeitung einem Schüler überlassen);

2. 2. Petr (von Origines als heilige Schrift zitiert);

3. am 2. und 3. Joh hat Origines nichts zu beanstanden, erwähnt aber Zweifel an der Echtheit als Grund der Anfechtung durch manche;

4. Jak (zitiert Origines häufig, der Mangel an allgemeiner Anerkennung wird aber berücksichtigt; in lat. Schriften von Origines auch als scriptura divina erwähnt);

5. Judas (ein einziges Mal verweist Origines auf einen Mangel an allgemeiner Anerkennung, zitiert ihn selbst aber als Heilige Schrift und rühmt ihn sehr);

6. Barnabasbrief (von Origines mit den übrigen katholichen Briefen gleichgestellt);

7. Hirte des Hermas (bei Origines ein inspiriertes, sehr nützliches Buch; vermutet, der Hermas von Röm 16,14 sei der Verfasser; Origines berücksichtigt aber auch Widerspruch gegen kanonische Anerkennung;

8. Apostellehre, Didache (von Origines als heilige Schrift zitiert, so in Alexandrien angesehen, aber keineswegs überall);

9. Hebräerevangelium (Evangelium der judenchristlichen Gemeinden, nicht der Ebioniten).


§7 Lucianus und Eusebius (S. 54-59)

Die Homologumena bei Eusebius:

die vier Evangelien, Apg, (14) Briefe des Paulus, 1 Petr, 1 Joh, eventuell auch die Offb

Die Antilegomena bei Eusebius:

a) deren Aufnahme er wünscht: Jak, Jud, 2 Petr, 2. und 3. Joh

b) Fälschungen (νόθα), deren Ausschluß er wünscht): Paulusakten, Hirte, Apokalypse des Petrus, Barnabasbrief, Didache, evtl. auch die Apokalypse des Johannes.

Das NT nach dem Sinn des Eus. ist abgesehen von der Ap das unsrige ... Dieses NT des Eus. finden wir bei Cyrill von Jerusalem, Gregor Naz., im Anhang des Can. Laod. 59, im Can. apost. 85, wahrscheinlich in Const. apost., und es wird von Amphilochius neben dem  antiochenischen Kanon berücksichtigt” (S.57).


§8 Athanasius (S. 59-61):

Der Osterbrief des Athanasius von 367 n. Chr. “Er ist der Erste, welcher die 27 Bücher unseres NT’s als die allein kanonischen hinstellt.” (S. 60)

kanonizomena: 27 Schriften des Neuen Testamentes

apokrypha: völlig verwerfliche Schriften

anaginoskomena: lesbare Schriften: christliche: Didache, Hirte des Hermas

vorchristliche: Weisheit Salomonis, Sirach, Esther, Judith, Tobias


§9 Die Weiterentwicklung im griechischen Orient bis zur Zeit Justinians (S.61-64)


§10 Die Angleichung des Occidents (S. 64-75)

Für die Angleichung des Occidents an den Orient in Sachen der Bibel hat niemand mehr getan als Hieronymus.” (S. 65). Athanasius wirkte auf die Entwicklung im Occident ein (340-343 war er in Rom, S.66). Das Verhältnis des Hbr und mehrerer der kath. Briefe zum NT: Der Hbr “blieb auch während der ersten drei Viertel des 4.Jahrhunderts vom lateinischen NT ausgeschlossen” (S.67). Der 2. Ptr und der 2. und 3. Joh haben “auch noch im 4. Jahrhundert ein unsicheres Verhältnis zum lateinischen NT gehabt” (S.68). “Der Ausschluß nicht nur des Jk, ... sondern auch des Jud ... war um 360 in Afrika eine ausgemachte Sache. Kein afrikanischer Schriftsteller nach Tertullian und vor Augustin hat einen dieser Briefe citiert” (S. 68). “Aus der Zeit vor 380 sind die Spuren der Verbreitung von 2 Pt, Jk, Jud, 2. 3 Joh spärlich” (S. 69). 382 n. Chr. fand eine römische Synode unter Bischof Damasus statt. “Die Seele der Verhandlungen ... war ... der 40jährige Presbyter Hieronymus, welcher sofort Vertrauensmann und der gelehrte Berater des Damasus wurde... Die Beschlüsse ... sind nachmals von den Päpsten Gelasius (492-96) und Hormisdas (514-523) erneuert und erweitert worden” (S.70). Demnach sind enthalten im NT: die 4 Evangelien (Mt, Mk, Lk, Joh), 14 Briefe des Paulus (letzter: Hbr.), Apokalypse, Apostelgeschichte, sieben katholische Briefe (1. + 2. Petr, Jk (Apostel), 1. Brief des Ap. Joh, 2 Briefe des Presbyters Joh, Brief des “Apostels Judas Zelotes”. Dieser Kanon war letztlich identisch mit dem Kanon des Athanasius. “Rom hatte gesprochen, und die Völker des Abendlandes hatten es gehört.” (S. 71) 
Langsamer folgten die Afrikaner. Auf den Synoden zu Hippo Regius vom J. 393 und zu Karthago 397 wurde ... der 382 in Rom festgesetzte Kanon der 27 Bücher angenommen” (S. 71). Daß Jk und Jud (als letzte kath. Briefe) Apostel seien, ließ man fallen; ebenso die Unterscheidung eines doppelten Johannes. Der Beschluß von 397 wurde noch einmal auf dem Concil zu Karthago 419 wiederholt. “Augustin, der schon zur Zeit der Synode von Hippo als Presbyter unter den Bischöfen eine Auktorität war, hat unablässig für den neuen Kanon gewirkt” (S.71).


II. Der Kanon Muratori:3

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wobei er doch zugegen war und es so hingestellt hat. 

Das dritte Evangelienbuch nach Lukas. Dieser Arzt Lukas hat es nach Christi Himmelfahrt (Auferstehung ?) da ihn Paulus als des Weges (der Lehre) Kundigen herangezogen hatte, unter seinem Namen nach <dessen> Meinung verfaßt. Doch hat auch er den Herrn nicht im Fleische gesehen und daher beginnt er so, wie es ihm erreichbar war auch von der Geburt des Johannes an zu erzählen. 

Das vierte der Evangelien, des Johannes, (eines) von den Jüngern. Als ihn seine Mitjünger und Bischöfe aufforderten, sagte er: Fastet mit mir von heute ab drei Tage, und was einem jeden offenbart werden wird, wollen wir einander erzählen. In derselben Nacht wurde dem Andreas, einem der Apsotel, offenbart, daß Johannes in seinem Namen, indem alle (es) überprüfen sollten, alles niederschreiben sollte. Und deshalb, wenn auch verschiedene Anfänge (oder: Tendenzen?) in den einzelnen Evangelienbüchern vorgetragen werden, trägt es doch für den Glauben der Gläubigen nichts aus, da durch den einen und führenden (anfänglichen?) Geist in allen alles erkklärt ist: über die Geburt, über das Leiden, über die Auferstehung, über den Verkehr mit seinen Jüngern und über seine doppelte Ankunft, erstens verachtet in Niedrigkeit, was geschehen ist, zweitens herrlich durch königliche Macht, was noch geschehen wird. Was Wunder also, wenn Johannes so sich gleich bleibend das Einzelne auch in seinen Briefen vorbringt, wo er von sich selbst sagt: Was wir gesehen haben mit unseren Augen und mit den Ohren gehört haben und unsere Hände betastet haben, das haben wir euch geschrieben. Denn damit bekennt er (sich) nicht nur als Augen- und Ohrenzeuge, sondern auch als Schriftsteller aller Wunder des Herrn der Reihe nach. 

Die Taten aller Apostel aber sind in einem Buche geschrieben. Lukas faßt für den ‘besten Theophilus’ zusammen, was in seiner Gegenwart im einzelnen geschehen ist, wie er das auch durch Fortlassen des Leiden des Petrus einsichtig klar macht, ebenso durch (das Weglassen) der Reise des Paulus, der sich von der Stadt (Rom) nach Spanien begab. Die Briefe aber des Paulus, welche es (d. h. von Paulus) sind, von welchem Orte und aus welchem Anlaß sie geschrieben sind, erklären das denen, die es wissen wollen, selbst.

Zuerst von allen hat er an die Korinther, (denen) er die Häresie der Spaltung sodann an die Galater, (denen) er die Beschneidung untersagt,
sodann aber an die Römer, (denen) er darlegt, daß Christus die Regel der Schriften und ferner ihr Prinzip sei, ausführlicher geschrieben. Über sie müssen wir einzeln handeln, da der selige Apostel Paulus selbst, der Regel seines Vorgängers Johannes folgend, mit Namensnennung nur an sieben Gemeinden schreibt in folgender Ordnung: an die Korinther der erste (Brief), an die Epheser der zweite, an die Philipper der dritte, an die Kolosser der vierte, an die Galater der fünfte, an die Thessalonicher der sechste, an die Römer der siebente. Aber wenn auch an die Korinther und an die Thessalonicher zu ihrer Zurechtweisung noch einmal geschrieben wird, so ist doch deutlich erkennbar, daß eine Gemeinde über den ganzen Erdkreis verstreut ist. Denn auch Johannes in der Offenbarung schreibt zwar an sieben Gemeinden, redet jedoch zu allen. Aber an Philemon einer und an Titus einer und an Timotheus zwei, aus Zuneigung und Liebe (geschrieben), sind doch zu Ehren der katholischen Kirche zur Ordnung der kirchlichen Zucht heilig gehalten. 

Es läuft auch (ein Brief) an die Laodicener, ein anderer an die Alexandriner um, auf des Paulus Namen gefälscht für die Sekte des Marcion, und anderes mehr, was nicht in die katholische Kirche aufgenommen werden kann; denn, Galle mit Honig zu mischen, geht nicht an. 

Ferner werden ein Brief des Judas und zwei mit der Aufschrift (oder: zwei des oben erwähnten) Johannes in der katholischen Kirche gehalten, und die Weisheit, die von Freunden Salomos zu dessen Ehre geschrieben ist. 

Auch von Offenbarungen nehmen wir nur die des Johannes und Petrus an, welche (letztere) einige von den Unsrigen nicht in der Kirche verlesen wissen wollen. 

Den Hirten aber hat ganz vor kurzem zu unseren Zeiten in der Stadt Rom Hermas verfaßt, als auf dem Thron der Kirche der Stadt Rom der Bischof Pius, sein Bruder, saß. Und deshalb soll er zwar gelesen werden, aber öffentlich in der Kirche dem Volke verlesen werden kann er weder unter den Propheten, deren Zahl abgeschlossen ist, noch unter den Aposteln am Ende der Zeiten.

Von Arsinous aber oder Valentin und Miltiades (?) nehmen wir überhaupt nichts an, die auch ein neues Psalmenbuch für Marcion verfaßt  haben zusammen mit dem Kleinasiaten Basilides dem Stifter der Kataphryger.”4


III. Origenes5

(Eusebius schreibt über Origines6):

In dem ersten Buche seines Matthäuskommentares bezeugt er in Übereinstimmung mit dem kirchlichen Kanon, daß er nur vier Evangelien kenne. Er schreibt: ‘Auf Grund der Überlieferung habe ich bezüglich der vier Evangelien, welche allein ohne Widerspruch in der Kirche Gottes, soweit sie sich unter dem Himmel ausbreitet, angenommen werden, erfahren: Zuerst wurde das Evangelium nach Matthäus, dem früheren Zöllner und späteren Apostel Jesu Christi, für die Gläubigen aus dem Judentum in hebräischer Sprache geschrieben, als zweites das Evangelium nach Markus, den Petrus hierfür unterwiesen hatte und den er in seinem katholischen Briefe als seinen Sohn bezeichnet mit den Worten: >Es grüßt euch die auserlesene Gemeinde in Babylon und Markus, mein Sohn.<7 Als drittes wurde geschrieben das Evangelium nach Lukas, der es nach Approbation durch Paulus an die Gläubigen der Heidenwelt richtete, zuletzt das Evangelium nach Johannes.’

Im fünften Buche seines Kommentares zum Johannesevangelium äußert sich Origines über die Briefe der Apostel also: ‘Paulus, der befähigt worden war, dem Neuen Bunde nicht des Buchstabens, sondern des Geistes zu dienen, und der das Evangelium von Jerusalem und Umgebung bis Illyrien vollendet hat, schrieb keineswegs an alle Gemeinden, die er unterwiesen hatte, ja er richtete auch an die, welchen er schrieb, nur einige Zeilen. Petrus, auf den die Kirche Christi gebaut ist, welche von den Toren der Hölle nicht überwältigt werden wird, hat nur einen allgemein anerkannten Brief hinterlassen. Er mag noch einen zweiten hinterlassen haben, doch wird derselbe bezweifelt. Johannes endlich, der an der Brust Jesu gelegen, hinerließ ein Evangelium und gestand in demselben, er könnte so viel schreiben, daß es die Welt gar nicht zu fassen vermöchte. Er schrieb die Apokalypse, nachdem er den Auftrag erhalten hatte, zu schweigen und die Stimmen der sieben Donner nicht niederzuschreiben. Auch hinterließ er einen Brief von ganz wenigen Zeilen. Auch noch einen zweiten und dritten Brief mag er geschrieben haben, dieselben werden jedoch nicht allgemein als echt anerkannt. Beide Briefe zählen indes keine hundert Zeilen.’

In seinen Homilien zum Hebräerbrief äußert sich Origines über denselben also: ‘Jeder, der Stile zu unterscheiden und zu beurteilen versteht, dürfte zugeben, daß der Stil des sog. Hebräerbriefes nichts von jener Ungewandtheit im Ausdruck zeigt, welche der Apostel selber eingesteht, wenn er sich als ungeschickt in der Rede, d. i. im Ausdruck, bezeichnet, daß der Brief vielmehr in seiner sprachlichen Form ein besseres Griechisch aufweist. Daß die Gedanken des Briefes Bewunderung verdienen und hinter denen der anerkannten Briefe des Apostels nicht zurückstehen, dürfte ebenfalls jeder als richtig zugeben, der mit der Lektüre des Apostels vertraut ist.’

Später bemerkt Origines noch: ‘Ich aber möchte offen erklären, daß die Gedanken vom Apostel stammen, Ausdruck und Stil dagegen einem Manne angehören, der die Worte des Apostels im Gedächtnis hatte und die Lehren des Meisters umschrieb. Wenn daher eine Gemeinde diesen Brief für paulinisch erklärt, so mag man ihr hierin zustimmen. Denn es hatte seinen Grund, wenn die Alten ihn als paulinisch überliefert haben. Wer indes tatsächlich den Brief geschrieben hat, weiß Gott. Soviel wir aber erfahren haben, soll entweder Klemens, der römische Bischof, oder Lukas, der Verfasser des Evangeliums und der Apostelgeschichte, den Brief geschrieben haben.’ So viel hierüber.”


IV. Eusebius8:

Es dürfte am Platze sein, hier die erwähnten Schriften des Neuen Testamentes zusammenzufassen. An die erste Stelle ist die heilige Vierzahl der Evangelien zu setzen, an welche sich die Apostelgeschichte anschließt. Nach dieser sind die Briefe des Paulus einzureihen. Sodann ist der sogenannte erste Brief des Johannes und in gleicher Weise der des Petrus für echt zu erklären. Zu diesen Schriften kann noch, wenn man es für gut hält, die Offenbarung des Johannes gezählt werden, über welche verschiedene Meinungen bestehen, die wir bei Gelegenheit angeben werden. Die erwähnten Schriften gehören zu den anerkannten.

Zu den bestrittenen aber, welche indes gleichwohl bei den meisten in Ansehen stehen, werden gerechnet der sogenannte Jakobusbrief, der Brief des Judas, der zweite Brief des Petrus und der sogenannte zweite und dritte Johannesbrief, welche entweder dem Evangelisten oder einem anderen Johannes zuzuschreiben sind.

Zu den unechten Schriften sind zu zählen die Paulusakten, der sogenannte Hirt, die Offenbarung des Petrus, ferner der sogenannte Barnabasbrief, die sogenannte Apostellehre und, wie ich schon sagte, auch noch, wenn man will, die Offenbarung des Johannes, welche, wie erwähnt, von den einen verworfen, von anderen aber zu den echten Schriften gerechnet wird. Zu den unechten zählten nun manche auch das Hebräerevangelium, das vor allem bei den Hebräern, welche sich zum Christentum bekehrt haben, Ansehen genießt.”9



V. Der heutige neutestamentlichen Kanon und der ungefähre Anteil der einzelnen Bücher daran



Wortzahl Neues Testament gesamt

100 %
Lukas gesamt 27.43 %
Lukasevangelium 14.17 %
Apostelgeschichte 13.26 %
Paulus mit Hebräerbrief 27.41 %
Paulus (Röm bis Philemon, 13 Briefe) 23.78 %
Hebräerbrief 3.63%
Johannesschriften gesamt 19.98 %
Johannesevangelium 11.29 %
3 Johannesbriefe 1.84 %
Johannesoffenbarung 6.85 %
Matthäusevangelium 13.32 %
Markusevangelium 8.23 %
2 Petrusbriefe 2.03 %
Jakobusbrief 1.28 %
Judasbrief 0.32 %

Nimmt man die vier Evangelien, die Apostelgeschichte und die Paulusbriefe (ohne Hebräer), so hat man schon über 80 % des Neuen Testaments. Von den übrigen Schriften waren auch einige schon früh "Homologumena". Von daher kann man sagen, daß die eigentliche Diskussion um die umstrittenen Schriften nur 5-10 % unseres neutestamentlichen Kanons ausmachte. Dogmatisch gesehen hat man mit den oben erwähnten über 80 % des Neuen Testaments schon enorm viel abgedeckt, was die klassischen Lehren des christlichen Glaubens betrifft. Man bedenke etwa, was alles im Matthäus- oder Johannesevangelium drinsteckt und welche theologischen Tiefen, Höhen und Weiten der Römerbrief durchschreitet. Die explosionsartige Ausbreitung des Christentums innerhalb der ersten einhundert Jahre seines Bestehens war begleitet und gestützt von einem Wort, das die Gläubigen von Anfang an als Wort des Lebens betrachtet haben. 

VI. Literatur


Gaussen, L., Die Aechtheit der Heiligen Schriften vom Standpunkt der Geschichte und des Glaubens, Grob, J. E. <trans>, Basel, Balmer und Riehm, 2 Bände, 1864-1865

Leipoldt, Johannes, Geschichte des neutestamentlichen Kanons. Erster Teil: Die Entstehung, Leipzig, Hinrichs’sche Buchhandlung, 1907 (Fotomechanischer Neudruck der Originalausgabe 1907-1908: Zentralantiquaritat der DDR Leipzig 1974, Leipzig, Hinrichs’sche Buchhandlung, 1908)

Leipoldt, Johannes, Geschichte des neutestamentlichen Kanons. Zweiter Teil: Mittelalter und Neuzeit (Fotomechanischer Neudruck, s.o.)

Ohlig, Karl-Heinz, Die theologische Begründung des neutestamentlichen Kanons in der alten Kirche, Düsseldorf, Patmos, 1972

Swarat, Uwe, Alte Kirche und Neues Testament: Theodor Zahn als Patristiker, TVG Monographien und Studienbücher 342, Wuppertal, Brockhaus, 1991

Zahn, Theodor, Grundriß der Geschichte des neutestamentlichen Kanons, Leipzig, Deichert’sche Verlagsbuchhandlung, 19042

Zahn, Th., Forschungen zur Geschichte des neutestamentlichen Kanons und der altchristlichen Literatur - VI. Teil: I. Apostel und Apostelschüler in der Provinz Asien II. Brüder und Vettern Jesu, Leipzig, 1900


Eddy Lanz , 1994



1 Theodor Zahn, Grundriß der Geschichte des neutestamentlichen Kanons, Leipzig: Deichert’sche Verlagsbuchhandlung 19042.

2 Clemens von Alexandrien wirkte “um 200” an “der alexandrinischen Katechetenschule”. Er war “unbekannter Herkunft, nach Reisen in Griechenland, Unteritalien und im Orient Hörer, dann als Nachfolger des Pantänus Lehrer der Schule in Alexandria, das er in der Verfolgungszeit 202/03 verlassen hat”. Clemens war nach Heussi kirchlicher (also nicht häretischer) Gnostiker, der den “bloß autoritativen Gemeindeglauben” (pistis) nicht ablehnte, sondern als “unumgängliche Voraussetzung” der tieferen Erkenntnis (gnosis) stehenließ. Er starb “vor 216”. Heussi,  K., Kompendium der Kirchengeschichte, Tübingen: Mohr 19811617g/h.

3 Hennecke-Schneemelcher, Neutestamentliche Apokryphen, Bd I: Evangelien, Tübingen: Mohr 19593, S.18: Kanon Muratori: “ein Verzeichnis der neutestamentlichen Schriften mit Erläuterungen zu den einzelnen Schriften..., das nach seinem Entdecker den Namen Canon Muratori erhielt. Dieses Verzeichnis ist wohl in Rom um 200 (oder vor 200) entstanden. Es war ursprünglich griechisch verfaßt und ist dann in ziemlich barbarisches Latein übersetzt worden (daher bleibt manches im Text unverständlich oder fraglich). Anfang und Ende sind verstümmelt.”

4 Zitiert nach Hennecke, Edgar; Schneemelcher, Wilhelm, Neutestamentliche Apokryphen - In deutscher Übersetzung, I. Band: Evangelien , 3. Auflage, Tübingen, 1959, a.a.O., S.19-20.

5 Origenes, geb. 185/86 in Alexandria, Schüler und ab 203 Lehrer an der dortigen Katechetenschule, 231 durch Bischof Demetrius von Alexandrien exkommuniziert; gründete daraufhin eine christliche Schule in Cäsarea in Israel; entfaltete eine sehr starke schriftstellerische Tätigkeit; unterschied zwischen Glaube (pistis) und Erkenntnis (gnosis), wobei letztere die erstere nicht verneint, aber weit übertrifft. Origenes starb wahrscheinlich 254 infolge der in der decischen Verfolgung erlittenen Folter. (Nach Heussi, a.a.O., §17k)

6 Eusebius, h.e. VI, 25,3-14, a.a.O., S. 299-300.

7 1 Petrus 5,13

8 Eusebius, “Pamphili, c.260/65 bis 339/40, Bischof von Cäsarea in Palästina”. “Seine bis 324 reichende” Kirchengeschichte (‘Historia ekklesiastike’, oft ‘h.e.’ zitiert) “... ist als geschichtliche Quelle einzig wertvoll (zahlreiche Zitate aus jetzt verlorenen altchristlichen Schriften).” Heussi, a.a.O., §1b + 17m.

9 Eusebius, III,24,17-25,5, a.a.O., S.175-176.